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Zwänge als Symptom der Anorexie


Bewegungszwang
Bild von Ilo auf Pixabay

Das Risiko, im Zusammenhang mit der Anorexie ausgeprägte Zwangsstörungen zu entwickeln wie Wasch- oder Ordnungszwang, ist für Jungen um knapp 40% erhöht, bei Mädchen um rund 16%.(1) Verbreitete Zwänge sind


  • Bewegungszwang

  • Putz- und Aufräumzwang

  • Waschzwang

  • Kleiderzwang

  • Zwang, immer nur ein bestimmtes Besteck oder Geschirr zu benützen

  • Kleinschneiden von Essen in winzige Stückchen


Da die genetische Veranlagung der Anorexie u.a. Überschneidungen aufweist mit Zwangsstörungen (2), liegt die Vermutung nahe,


dass die Zwänge als Symptom der AN auftreten.

Die Erfahrung zahlreicher Eltern, dass die Zwänge ihrer Kinder vor der Krankheit nicht vorhanden waren und nach der Heilung wieder verschwanden, bestärkt diese Annahme. Ein Bereich des Gehirns, der durch Hunger stark gestört wird, ist die Insula. Sie ist einer der fünf Großhirnlappen und in das vegetative Nervensystem eingebunden (3). Sie ist vorwiegend dafür verantwortlich, dass wir uns in einem psychischen Gleichgewicht zwischen inneren und äusseren Einflüssen befinden. Zudem reguliert sie den Appetit und die Nahrungsaufnahme. Wird ihre Funktion gestört, reagiert der/die Betroffene unvernünftig und irrational, hat Schwierigkeiten mit der Integration von Gedanken und Gefühlen, hat keine Krankheitseinsicht und ein verstärktes Gefühl von Ekel. Letzteres dürfte die biologische Ursache für die ausgeprägten Wasch- und Putzzwänge sein. Auch das verzerrte Körperbild ist auf die mangelnde Funktion der Insula zurückzuführen. (4)


Zwänge vermitteln Sicherheit. Im Hinblick auf die neuronalen Vernetzungen im Gehirn empfiehlt es sich dennoch, bereits von Anfang an aktiv an zwanghaftem Verhalten zu arbeiten. Dabei kann mit weniger ausgeprägten Zwängen begonnen werden. Beim Essen sollte von Beginn des Refeedings an immer sehr variantenreich gekocht und häufige Wiederholungen derselben Gerichte vermieden werden.


Die Erkenntnisse der Gehirnforschung sagen deutlich, dass ein zu langes Verharren in krankhaften Verhaltensmustern das Umprogrammieren der Gehirnstruktur erschwert. (5)

„Bei einem Verlauf über viele Jahre kann AN zu einem Teil der Identität werden, die nur schwer aufzugeben ist.“ (6) Möglich ist das, weil unser Gehirn bis zuletzt lernfähig bleibt. Je öfter wir ein Verhalten oder einen Gedanken wiederholen, desto stärker werden die neuronalen Verknüpfungen. Der Neurobiologe Gerald Hüther verwendet dabei den metaphorischen Begriff Autobahnen im Gehirn, um die Idee der neuronalen Verbindungen und deren Bedeutung für das Lernen und die Entwicklung des Gehirns zu verdeutlichen. Er betont, dass diese Verbindungen ähnlich wie Autobahnen funktionieren, indem sie eine schnelle und effiziente Informationsübertragung ermöglichen. Je öfter wir einen Gedanken oder eine Tätigkeit praktizieren, desto stärker wird die entsprechende Verschaltung im Gehirn und desto breiter die Autobahn. (7) Es sind besonders die wiederholten Verhaltensweisen des wenig Essens und viel Bewegens, die starke neuronale Nervenbahnen im Gehirn bilden.(8) Sie werden zu sehr stabilen, festgefahrenen Verhaltensweisen, die sich wie Standardeinstellungen anfühlen und umso schwerer zu brechen sind, je länger sie bereits andauern.


Das aktive Aufbrechen von Zwängen fällt vielen Eltern schwer, weil sie spüren, dass die Zwänge ihren Kindern Sicherheit bieten. Es ist aber eine trügerische Sicherheit, die immer die Heilungsphase verlängert und die im schlimmsten Fall in der Chronifizierung münden kann.




Quellen:


(1) Vgl. S3-Leitlinie (2020), 4.1.3

(4) Vgl. Nunn, K.; Frampton, I.; Gordon, I.; Lask, B. (2008). The Fault is not in her parents but in her insula – a neurobiological hypothesis of anorexia. Eur Eat Disord Rev, 16(5): 355-60.

(5) Vgl. Farrar, T. (2022). Rehabilitieren, Reprogrammieren, Regenerieren!: Genesung von Anorexie für entschlossene Erwachsene. Independently published.

(6) S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen (2020), 2. Auflage.

(7) Vgl. Hüther, G. (2012). Jedes Kind ist hochbegabt; Albrecht Knaus Verlag.

(8) Vgl. Smith, K.S., Graybiel, A.M. (2016). Habit formation. Dialogues in Clinical Neuroscience. 18(1), 33-34.

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