Die Forschung der letzten 30 Jahre hat erkannt, dass es drei Komponenten benötigt, die gemeinsam gegeben sein müssen, damit ein Mensch an Anorexie erkrankt:
die genetische Veranlagung, ein Energiedefizit sowie den Auslöser des Energiedefizits. (1)
Ein Auslöser führt zu einem Energiedefizit, welches die genetische Veranlagung triggert und die Krankheit aktiviert. Auslöser können ein Wachstumsschub, eine Grippe, Diäten oder auch erhöhter Energiebedarf durch Ausdauersport sein. Auch psychische Herausforderungen wie Mobbing, Liebeskummer oder der Verlust eines geliebten Menschen können dazu führen, dass die Nahrungsaufnahme schwerfällt und dadurch ein Energiedefizit entsteht.
Wenn der Auslöser psychisch bedingt ist, bekommt die Krankheit eine funktionale Komponente. Das bedeutet, dass die Anorexie für die Betroffenen einen Zweck erfüllt. Da sie mit einer Gewichtsabnahme verbunden ist, verändert sie die körperliche Erscheinung. Sie beeinflusst das Körperbild und die Selbstwahrnehmung.
Anorexiepatient:innen berichten, dass die Gewichtsabnahme mit einer Erhöhung des Selbstwertes einhergeht.
Besonders anfällig sind damit Kinder und Jugendliche mit schwachem oder phasenweise geschwächtem Selbstwertgefühl, wie es häufig während der Pubertät vorkommt. Die meisten Erkrankungen beginnen im Alter zwischen zehn und 20 Jahren.
Bei den meisten Menschen löst ein Energiedefizit negative Gefühle aus wie Hunger, Unruhe, körperliche Schwäche. Die amerikanische Essstörungsexpertin Cynthia Bulik erläutert, dass sich Menschen mit der Veranlagung zur Anorexie besser fühlen mit einer negativen Energiebilanz.
„Eine Diät fühlt sich gut an; sie fühlen sich ruhiger.
[...] Die positive biologische Reaktion auf eine negative Energiebilanz verleitet sie zu fortgesetzten und eskalierenden Diäten auf der Suche nach dem paradoxerweise verbesserten Wohlbefinden, das sie mit sich bringen. Es ist gleichzeitig verführerisch und destruktiv. Es ist verführerisch, weil es Ruhe und Kontrolle verspricht; es ist zerstörerisch, weil es die Macht hat zu töten.“(2)
Wichtig zu verstehen ist, dass alle drei Komponenten zusammenspielen müssen, damit ein Mensch an Anorexie erkranken kann: Ein Mensch, der nicht über die entsprechende genetische Veranlagung verfügt, wird nicht krank, auch wenn er viel Gewicht verliert und ins Untergewicht rutscht. Sein Körper wird durch den Nahrungsmangel zwar ebenfalls geschädigt, er kann dieselben Symptome entwickeln wie Anorexiepatient:innen, aber es entsteht dadurch nicht zwangsläufig eine Angststörung gegenüber der Nahrungsaufnahme, und der Heilungsprozess gestaltet sich wesentlich einfacher. Ebenso erkrankt man nicht, wenn man zwar über die genetische Veranlagung verfügt, der Körper aber nicht in ein Energiedefizit gerät.
Tabitha Farrar, Coach für erwachsene Anorexie-Patient:innen und selbst von AN genesen, schildert ihre Erfahrung mit dem Beginn der Krankheit wie folgt: „Als ich in ein Energiedefizit rutschte, verlagerten sich meine Kernkonzepte und -überzeugungen und somit die Art, wie ich die Welt wahrnahm, radikal. Meine Wahrnehmung von Essen änderte sich dramatisch. Aber nicht nur diese, sondern meine Wahrnehmung von allem in meiner Welt änderte sich. Meine innerliche Wahrnehmung, meine Überzeugungen und meine mentale Konstruktion wandelten sich stark. Dieser Wandel beeinträchtigte jeden Aspekt meines Lebens – so vieles mehr als nur mein Gewicht.“(3)
Quellen:
(1) Vgl. Ani (2021). Essstörung – Restriktionen, der Grund allen Übels. https://eat-team.com/essstoerung/
(2) Bulik, C. (2014). Negative Energy Balance: A Biological Trap for People Prone to Anorexia Nervosa: https://uncexchanges.org/2014/12/01/negative-energy-balance-a-biological-trap-for-people-prone-to-anorexia-nervosa/
(3) Farrar, T. (2022). Rehabilitieren, Reprogrammieren, Regenerieren!: Genesung von Anorexie für entschlossene Erwachsene. Independently published.