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Die Schuld-Falle



Fast alle Eltern mit AN-Kindern fragen sich, zumindest am Anfang, was sie falsch gemacht haben, dass ihr Kind so krank werden konnte. Im Zusammenhang mit Anorexie hat die deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin Hilde Bruch, eine der ersten Expertinnen für die Behandlung von Essstörungen, die bis heute dominierende Sicht von Ärzt:innen und Therapeut:innen geprägt. 1978 veröffentlichte sie ihr Buch Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht, indem sie einen Zusammenhang zwischen der Entstehung der Essstörung und überhöhten Erwartungen von Eltern an ihre Töchter sieht. In der Behandlung sucht sie folglich nach familiären Strukturen, die mitbehandelt werden müssen. In vielen modernen Studien konnten jedoch keinerlei Belege für den Zusammenhang zwischen familiären Verhaltensmustern und der Entstehung der AN gefunden werden. „In Familien, in denen ein Familienmitglied an einer Essstörung leidet, sind die Beziehungen oft sehr belastet und das Familienklima ist vergiftet.


Diese Auffälligkeiten sind aber meistens Folge und nicht Ursache der Essstörung.“[1]

 

Die meisten Eltern fühlen sich selbst schuldig, weil sie die Krankheit nicht früher erkannt haben. Dabei ist es damit wie mit den meisten Dingen im Leben: Man versteht sie erst im Nachhinein. Rückblickend kann man vieles begreifen, und nach der Diagnose erkennt man plötzlich die Kleinigkeiten, die damals auf die Essstörung hinwiesen, die man aber anders eingeschätzt hatte. Wenn schon überall Vegetarismus und Veganismus propagiert wird, warum soll der Teenager das nicht auch für sich ausprobieren. Bewegung ist gesund,  warum sollen Eltern es nicht begrüßen, wenn der Nachwuchs nun zur Schule läuft anstatt den Bus nimmt oder abends vor dem Schlafengehen das Joggen für sich entdeckt. Und nicht zuletzt sind viele Eltern von sogenannt übergewichtigen Kindern froh, wenn die Teenager plötzlich von sich aus auf Süßigkeiten verzichten und abnehmen, bekommen sie doch überall implizit oder explizit vorgehalten, dass ihre Kinder zu dick sind. Die Verhaltensänderungen, die eine AN zu Beginn begleiten, sind weder ungewöhnlich noch schädlich für Kinder ohne genetische Veranlagung. Wer die Krankheit nicht kennt, weiß nichts von der genetischen Disposition seines Kindes und hat damit auch keinen Grund, bei obengenannten Veränderungen zu intervenieren. Zudem ist ganz wichtig zu wissen:


Eine Essstörung erkennen selbst viele Fachleute nicht!

Nicht selten werden Eltern mit ihren Kindern wieder aus der Arztpraxis geschickt mit der Aussage, das Kind sei in der Pubertät und wolle sich durch sein verändertes Essverhalten von den Eltern abgrenzen. Nicht selten bekommen die Eltern den Vorwurf zu hören, sie seien überfürsorglich und könnten nicht loslassen. Insbesondere Eltern von übergewichtigen oder (noch) normalgewichtigen Kindern, welche die Arztpraxis aufsuchen, weil ihr Kind kaum noch etwas isst, plötzlich depressives und zwanghaftes Verhalten aufweist, kennen solche Situationen.

 

Neben dem Schuldgefühl, das die Eltern durch Reaktionen von außen empfinden und jenem, das sie aufgrund ihrer eigenen vermeintlichen Fehler spüren, gibt es eine weitere Art von Schuld: Die Schuld, die man dem kranken Kind gibt. „Oft entsteht für die Familienmitglieder der Eindruck, dass die von der Essstörung Betroffenen sich absichtlich an die Symptome klammern, sich absichtlich nicht helfen lassen wollen, absichtlich alles verweigern, was ihnen angeboten wird. Weil die Betroffenen ihre Essstörung am Anfang verleugnen, sieht es für die Eltern so aus, als wäre es gar keine richtige Krankheit, sondern einfach nur Starrköpfigkeit.“[2] Selbst sehr reflektierte Eltern, die ein breites Wissen über die AN haben, ertappen sich in Momenten der Erschöpfung und Verzweiflung dabei, das Kind verantwortlich zu machen für all das Schwere, Bedrückende, Beängstigende, das die Krankheit in ihr Leben gebracht hat. Gedanken wie „Iss doch einfach wieder normal!“ dürften wohl alle Eltern kennen, die ihr Kind durch diese Krise begleiten.

 

Aber nicht nur die Eltern empfinden Schuldgefühle, sondern auch die betroffenen Kinder.

Sie spüren, wie sehr ihre Krankheit die Familie belastet, müssen zusehen, wie sich die Beziehungen verschlechtern, die Eltern erschöpft und verzweifelt sind. Und sie können nichts dagegen tun.

 

Es ist ganz wichtig, aus der Schuldschleife auszusteigen. Was war, ist vorbei und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Es gilt nun, den Blick nach vorne zu richten. Das Kind hat sich diese Krankheit nicht ausgesucht, und es kommt da auch ohne Hilfe nicht mehr raus. Heilung kann gelingen, wenn die Eltern in der Lage sind, die Verantwortung für die Wiederernährung ihres Kindes solange zu übernehmen, bis alles anorektische, restriktive Verhalten verschwunden ist. Das ist anstrengend genug und fordert sämtliche Kraftreserven.


Energie in die Frage nach Schuld zu stecken, wo es keine Schuld gibt, ist vollkommen sinnlos.



[1]Pauli, D. (2018). Size zero. Essstörungen erkennen, verstehen und behandeln. C.H. Beck.

[2]Pauli, D. (2018).

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