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Zielgewicht


Zielgewicht, Waage
Bild von Vidmir Raic auf Pixabay

Bei den meisten Anorexiepatient:innen stellt sich irgendwann die Frage nach dem Zielgewicht. Wie hoch muss das Gewicht sein? Wie lange soll das Gewicht gesteigert werden? Meist drängt sich die Frage auf, wenn das medizinische minimale Normalgewicht erreicht ist, das Kind das Gefühl hat, dass es jetzt genug „dick“ ist und wenn die sichtbaren Spuren der Magersucht verschwunden sind. Oft haben sowohl Eltern wie auch Ärzt:innen Angst, das Kind zu weit hoch zu füttern.


Diese Angst liegt in den Vorstellungen und Prägungen unserer Kultur begründet, die ein ungesundes Bild vom perfekten Körper multimedial verbreitet.(1)

Immer wieder kommt es vor, dass begleitende Ärzt:innen an einem bestimmten Punkt eine weitere Gewichtszunahme ausbremsen. Dabei orientieren sie sich üblicherweise an einem BMI von 18, dem Durchschnitt von Männern und Frauen, bei dem gemäß Tabelle der WHO die untere Grenze des „Normalgewichts“ erreicht ist. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sich die Berechnung des BMI nur sehr bedingt für die Beurteilung von Kindern und Jugendlichen eignet, da diese Wachstumsschübe durchlaufen und sich durch Krankheiten möglicherweise verzögern. (2)


Dass sich Ärzt:innen und Therapeut:innen bei der Begleitung des Kindes an einem Zielgewicht orientieren möchten, ist nachvollziehbar, da sie keine Aussage über die Gehirnheilung machen können. Als Orientierungshilfe über den Fortschritt der Heilung dient ihnen nur die Beurteilung des somatischen Zustands sowie die Beurteilung des Verhaltens des/der Jugendlichen in der Arztpraxis, sie haben jedoch keinen Einblick ins alltägliche Verhalten zuhause. Dadurch stecken sie in einem Dilemma. Sie müssen sich mit der Beurteilung der körperlichen Genesung zufriedengeben mit dem hohen Risiko, dass das Gehirn noch weit von einer Heilung entfernt ist und die Krankheit durch einen Zunahmestopp chronifizieren kann. Oder sie kooperieren mit den Eltern, verlassen sich auf deren Aussagen und Beobachtungen und streben gemeinsam mit ihnen eine weitere Gewichtszunahme an, bis sich das Verhalten des Kindes im Alltag normalisiert hat. Diese Vorgehensweise setzt gegenseitiges Vertrauen und eine hohe Kommunikationsfähigkeit von beiden Seiten voraus.


Eine Empfehlung, die Gewichtszunahme bei einem BMI zu stoppen, der knapp über dem medizinischen Untergewicht liegt, birgt neben der üblicherweise noch nicht vollzogenen Hirnheilung und dem Risiko der Chronifizierung eine weitere Gefahr. Da ein:e Anorexie-Patient:in über die lebenslängliche genetische Veranlagung zur Magersucht verfügt, kann jedes neue Energiedefizit zu einem Rückfall führen.


Je früher die Gewichtszunahme gestoppt wird, desto rascher sind die Betroffenen bei einem Rückfall wieder im kritischen Untergewicht.

Während die Zusammenhänge zwischen Gewicht und dem Zustand des Gehirns mehrfach wissenschaftlich erforscht wurden, gibt es aktuell noch keine Studien über die Höhe des „gesunden“ Gewichts von Anorexie-Patient:innen. Nachgewiesen wurde allerdings bereits 2014, dass eine frühe und schnelle Gewichtszunahme einen besseren Einfluss auf die psychische Verfassung der Betroffenen hatte als eine späte und langsamere Zunahme. Zudem ging es Patient:innen, die während der Behandlung mehr Gewicht zugelegt hatten, besser als solchen, die mit einem tieferen Gewicht entlassen wurden. (3)


Die Erfahrungen zahlreicher Eltern von genesenen Kindern und Jugendlichen zeigen, dass sich das Essverhalten sowie das Gesamtverhalten ihrer Kinder in den allermeisten Fällen erst über einem BMI von 21 und damit weit über dem von vielen Ärzt:innen empfohlenen Gewicht normalisiert hat. Julie O'Toole, Gründerin, Präsidentin und emeritierte Chefärztin der auf Essstörungen spezialisierten Kartini Clinic in Portland, USA, ist überzeugt: „Niedrige Gewichtsziele bedeuten langsames Wachstum, lineares Größenwachstum, suboptimales Gehirnwachstum und keine Rückkehr/Einleitung der Menstruation.“(1) Sie plädiert dafür, sich am Verhalten de:r Patient:in zu orientieren anstatt am Gewicht.


Restriktives Denken und danach Handeln reicht, um eine Anorexie nicht heilen zu lassen. (4)

Ohne eine Auflösung der neuronalen Vernetzungen, welche restiktives Verhalten steuern, ist vollständige Heilung nicht möglich. Keine noch so sorgsam analysierenden Fachleute können vorhersehen, bei welchem Gewicht das Gehirn die nötigen Ressourcen dazu hat, sich durch gezieltes Training in Richtung Gesundheit umzubauen.





Quellen:


(1) Vgl. O'Toole, J. (2016). Setting Goal Weights. https://kartiniclinic.com/blog/post/setting-goal-weights/

(2) Vgl. Setting Target Weights in Eating Disorder Treatment. https://www.feast-ed.org/setting-target-weights-in-eating-disorder-treatment/

(3) Vgl. Is weight gain really a catalyst for broader recovery?: The impact of weight gain on psychological symptoms in the treatment of adolescent anorexia nervosa. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0005796714000278?via%3Dihub

(4) Vgl. Ani (2021) Essstörung – Restriktionen, der Grund allen Übels. https://eat-team.com/essstoerung/

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